Frühling lässt sein graues Band…

Es war genau 11:50h, als ich in flirrender Hitze von meinem Buch aufsah. Vor meinen Augen tanzten die Buchstaben am Himmel Ringelreihen, bevor sie sich mitten über dem Meer zerstreuten wie ein kleiner Schwarm auseinanderstiebender Vögel. Vielleicht war mir die Hitze zu Kopf gestiegen. An der Südseite der Veranda wird es bei Windstille nämlich inzwischen so warm, dass die Holzplanken diesen sommerlichen Geruch von Bohlen in den Dünen an einem Ferienbadetag im Juli ausströmen. Aber alles Augenreiben half nichts: Da standen immer noch vier Buchstaben am Himmel.

Nun muss man wissen, dass meine Augen erst jüngst daran gescheitert waren, zuverlässig ein C von einem O und all seinen weiteren Verwandten zu unterscheiden, die einem vorgesetzt werden, wenn man eine neue Brille benötigt. Ich war also skeptisch. Vier wechselweise nach unten und oben geöffnete Cs, wie ich sie nun sah, hätten meine Optikerin sicherlich in diesen Skeptizismus einstimmen lassen, aber in meiner Sonnendösigkeit begann mir langsam doch zu dämmern, dass die seltsamen Lettern nicht etwa die Fortsetzung meiner Lektüre, sondern die sich nach oben und unten öffnenden Schwingen einiger ziemlich großer Vögel waren, die direkt auf mich zukamen. Und dann war ich plötzlich doch ziemlich wach.

Das ist immer ein spannender Moment: Da fliegt etwas, es ist ungewöhnlich, es kommt in deine Richtung. Dreht es vielleicht doch ab? Lässt sich irgendetwas aus Haltung oder Frequenz der Flügelschläge ableiten? Ruft der Vogel womöglich gar seinen Namen? – Nach Verstreichen einiger Minuten, viel Flimmern über dem Meer, stummen Vögeln und einer gepfefferten Mischung fluchender und flehender Worte vom Vogelwart war dann aber doch klar, dass ich heute Glück hatte: Es waren vier Kraniche – die Vögel, die seit etlichen Menschenaltern und in verschiedensten Kulturen als Sonnen-, Frühlings-, Glücks- und Liebesboten verehrt werden. Das hängt sicher damit zusammen, dass sie nicht nur die majestätischsten, sondern auch die lautesten Künder der neuen Jahreszeit, von mildem Wetter und wieder erblühendem Leben sind. Und sie zogen direkt über meine Hütte hinweg.

Sie haben bestimmt auch schon einmal Kraniche gesehen. Wahrscheinlich sogar eher, als wenn Sie auf Trischen wohnen würden, denn diese Vögel ziehen zu Frühlingsbeginn auf breiter Front von Südwesten nach Nordosten und im Herbst andersherum über Deutschland hinweg. Trischen liegt fast am äußersten Rand der traditionellen Flugwege, die diese langlebigen Vögel von ihren Eltern erlernen wie Menschenkinder den Schulweg von den ihren. Und während über meiner Heimatstadt Hamburg alljährlich große Formationen ihre lauten Krrru-Krrru!-Rufe hören lassen, werden sie auf Trischen, wenn überhaupt, nur in geringer Anzahl beobachtet.

In Hamburg blühen inzwischen die Kirschen. Hier auf der Insel passiert alles etwas später, bisher streckt nur ein kleines Löffelkraut die weißen Blüten schüchtern in den Himmel. Aber nun weiß ich ja doch: Der Frühling kommt, die Glücksvögel können nicht lügen. Als sie schon weit entfernt über der Nordspitze Trischens sind, blicke ich ihnen noch immer nach. Sie hängen nun wie ein feines graues Band in der hellblauen Luft und ich denke „Frühling lässt sein graues Band wieder flattern durch die Lüfte…“..oder erinnere ich mich etwa falsch an die Zeilen des alten Mörike? Ich muss in der Hitze wohl ein paar Buchstaben vertauscht haben.

Ballettrevue oder: Von der schwierigen Frage nach dem Lieblingsvogel

Jeder wird eines Tages konfrontiert mit den schwierigen Fragen des Lebens. Welchen Beruf soll ich ergreifen? Sollte ich heiraten? Möchte ich Kinder? Wie verbringe ich meinen Ruhestand? Das ist ja alles wirklich nicht einfach, aber im Leben eines Ornithologen gibt es eine Frage, die das alles an Komplexität, endlosen Abwägungen und impulsiven Umentscheidungen bei weitem in den Schatten stellt: Was ist dein Lieblingsvogel?

Und wie bei vielen Fragen im Leben stellt sich im Laufe der Zeit auch hier Klarheit ein. Das Schöne ist ja übrigens auch, dass man diese Frage immer wieder neu beantworten darf. Sie wird übrigens meistens von Nicht-Ornithologen gestellt, und ich habe das Gefühl, dass in meiner Antwort bisweilen die Rechtfertigung einer auf Außenstehende etwas skurril anmutenden Leidenschaft mitschwingt. Was also ist dein Lieblingsvogel, Till?

Ich  hole das Bild einer Flussseeschwalbe hervor (sh. Link) – ich finde, das erklärt alles. Gut, nicht ganz. Ich will es ausführen.

https://www.nabu.de/tiere-und-pflanzen/voegel/portraets/flussseeschwalbe/

Eine Seeschwalbe ist zweifellos ein wunderschöner Vogel. In tiefem Schwarz zieht sich eine Kappe bis knapp über das dunkel funkelnde Auge und kontrastiert mit dem hellen Körper, der sich in Form und Farbe zur Brust hin verdichtet. Sie changiert hier je nach Art von silbrig weiß (Rosenseeschwalbe) über ein lichtes Hellgrau (Flussseeschwalbe) bis hin zu tiefem Gewittergraublau (Weißbartseeschwalbe). Die Brust scheint der einzige Punkt zu sein, in dem dieses ätherische Wesen irgendeine Form von Masse zusammenbringt. Überhaupt, die Form: Wenn der Blick einen Moment an den Linien des Vogels entlangwandert, merkt man schnell, dass man nicht an eine Möwe geraten ist. Zu sanft schwingen die Linien, zu schnell irgendwie, der Körper wirkt wie gezeichnet in einem einzigen schwungvollen Zug, und alles was an einer Möwe sperrig oder klobig wirken könnte, ist hier im Beieinander einiger Federn negiert.

Aber das ist nur ein Foto. Und damit in etwa so, als würde ich Ihnen den Zauber einer Ballettrevue durch das Bild einer Ballerina erklären wollen. Stellen Sie sich nun also bitte vor, dass dieses federleichte Geschöpf eines Apriltags plötzlich aus dem Süden herangerauscht kommt. Eines Morgens ist es – sind sie – da, denn es sind mehrere. Hoch in der Luft über der Hütte höre ich ein scharfes kierrrikriekri!!kipkipkip und stolpere noch im Schlafanzug heraus. Ich bin kurz geblendet vom gleißenden Sonnenaufgang. Aber dann fallen sie aus dem Licht; zwei, drei, vier, in einer gewaltigen Kurve sausen sie herab und scharf an mir vorbei, schwingen sich sofort wieder hinauf in hundert Meter Höhe – kierrrikrrkierriii!!!  – und blitzen silbern im ersten Morgenlicht auf. Die Balz der Seeschwalben hat begonnen! Die Ballettrevue startet!

Denn was diese Tiere vollführen, wenn sie balzen, ist an atemberaubender Geschwindigkeit, federleichter Eleganz und vor allem perfekter Synchronisation kaum zu übertreffen. Andere haben das schon besser beschrieben als ich, und deshalb zitiere ich Ihnen aus „Terns“ (=Seeschwalben) von David Cabot und Ian Nesbit, über den Balzflug der Seeschwalben (und in meiner einfachen Übersetzung):

„Es beginnt, wenn ein Vogel, der bereits in der Luft ist, anfängt schnell aufzusteigen, mit tiefen und manchmal ruckartigen Flügelschlägen; ein zweiter Vogel in der Nähe folgt ihm, und bisweilen schließen sich weitere der Verfolgung an. Die Vögel fliegen in weiten Kreisen aufwärts und formen sich überschneidende Helices mit meist 20 – 50 m im Durchmesser. Am Gipfelpunkt des Aufstiegs legt der führende Vogel die Flügel zusammen und gleitet abwärts. Der Schlüsselmoment im high flight ist the pass, in dem der zweite Vogel (gewöhnlich ein Weibchen) den voranfliegenden Vogel (gewöhnlich ein Männchen) überholt und gerade eben über ihm vorbeizieht. Anschließend gleiten die beiden Vögel gemeinsam abwärts und schwingen von Seite zu Seite, sodass ihre Flugbahn sich immer wieder kreuzt.“

The Pass? Das ist purer Tanz. Es ist eine Choreographie. Und es ist offensichtlich nach Seeschwalben- und Menschenmaßstab gleichermaßen schön.

Man kann das entzaubern wollen und sagen, das sei eben alles Instinkt, der Vogel tue nunmal das, was seine Gene ihm flüstern. Das kann gut sein. Aber dann müssen wir uns das von unserem Tanz auch sagen lassen – die etwas plumperen Annäherungsversuche unseres Geschlechts, ob Freestyle im Club oder beim gesitteten Tanz nach einem Galadiner, sind in letzter Konsequenz nichts anderes. Was man darüber hinaus darin sieht, liegt an jedem selbst. Ich finde, dass Körperliches nie so leicht wirkt wie im Tanz der Seeschwalben. Als Arzt kam mir einmal in einem ganz anderen Zusammenhang (nämlich beim Anblick der hauchzarten Kapillaren des Hirns durchs OP-Mikroskop) ein Ausdruck in den Sinn, der sich mir hier sonderbarerweise wieder aufdrängt: Feinste Kalligraphie der Materie. Genau so wirkt es, wenn Seeschwalben wie körperlos durch die Luft ziehen.

Während ich das hier tippe, toben sie – es sind Flussseeschwalben – über die Insel wie Irrwische. Ich kann kaum den Blick am PC halten, aber ich möchte diese Erfahrung mit Ihnen teilen; umso mehr, weil auch die Seeschwalben stark unter veränderten Umweltbedingungen, vor allem aber unter Lebensraumverlust leiden. Ein Meer ohne Fische macht keine Küstenseeschwalbe satt, der steigende Meeresspiegel nimmt Brandseeschwalben die letzten Sandbank-Refugien außerhalb des Nordseebadebetriebs, und ein Strand mit herumtollenden Hunden ruiniert den Jahresbruterfolg einer Kolonie seltener Zwergseeschwalben mitunter in Minuten.

Seeschwalben haben über ihre Schönheit hinaus eine ausgesprochen interessante Biologie. Ich könnte Ihnen stundenlang davon erzählen. Vielleicht folgt das einmal in einem anderen Beitrag. Aber dass sie jedes Jahr aus afrikanischen, gar antarktischen Gefilden wieder zu uns zurückkehren, erfüllt mich mit Staunen und Freude. Ich möchte noch einmal die Seeschwalbenforscher Cabot und Nesbit zitieren:

„Das wäre ein trauriger, trübsinniger Naturfreund, der bei einem Besuch am Meer keine nahe der Küste fliegenden und jagenden Seeschwalben fände, so eindrucksvoll schön und zu einem gewissen Grad spirituell erhebend.“*

Dem schließe ich mich an. Seeschwalben sind wundervoll.

 

*Wer übrigens auf Englisch in dem exzellenten Band lesen möchte: Terns (New Naturalist Library, Band 123), David Cabot und Ian Nesbit,‎ Harper Collins Publ. UK; First Edition (6. Juni 2013); ISBN: 0007412487

Unten ein paar Eindrücke (Flussseeschwalbe mit the pass & solo), leider etwas unscharf, ich hoffe aber, die Worte treffen es besser.

 

 

 

 

 

Invasion der Rotkehlchen II – Die Rückkehr

Sie kommen in der Nacht..

Sie sitzen vor deinem Fenster..

Sie beobachten dich, wenn du schläfst..

Du wirst nicht hören, wenn sie kommen..

Du wirst nicht merken, dass sie dich beobachten..

Sie sehen dich, bevor du sie siehst – und wenn du die Tür öffnest,…!

Ein Mann lebt einsam und zurückgezogen in einer Hütte fernab jeglicher Zivilisation. Es ist ein friedliches Leben. Doch das Unerwartete lauert bereits. Als er eines abends ins Bett geht, ahnt er nicht, dass mit der Nacht etwas über ihn kommen wird, dem er nichts entgegenzusetzen hat. Der Morgen graut. Es geht kein Wind. Die Welt wirkt wie ausgestorben. Doch da ist ein neues Geräusch. Auf dem Dach der Hütte kratzt etwas. Unter den Bodendielen huscht es hin und her. Schemenhafte Gestalten flirren an den Fenstern vorbei. Wendet er den Blick, sind sie verschwunden.. Vorsichtig steht er auf, späht, horcht. Er öffnet die Tür – und dann bricht es über ihn herein! Von allen Seiten schwirrt es, flattert um seinen Kopf, und ehe er sich versieht sind sie bereits in die Hütte eingefallen: Rotkehlchen! Schon sitzt eines im Bett. Ein anderes verrichtet sein Geschäft auf dem Lieblingsbuch. Zwei schwirren im Dachstuhl hin und her. Eines inspiziert die Küche. Etliche sitzen auf dem Geländer der Hütte, im Zwischendeck, im Lockgebüsch und feixen. Bis die Hütte wieder dem Einsiedler alleine gehört, ist ein schweißtreibender Kampf ausgefochten – und der arme Mann fast umgekommen, denn Rotkehlchen sind einfach wirklich zum Sterben niedlich.

Ich kann ich das nicht leugnen. Als das Rotkehlchen letztes Jahr in einer öffentlichen Wahl zum Vogel des Jahres gekürt wurde, hat das bei mir dennoch für etwas Verwunderung gesorgt. Seit 1971 steht dieser Titel einem Vogel zu, der, von einem Expertengremium gewählt, eine im Schwinden begriffene Art oder einen bedrohten Lebensraumes repräsentiert. Selbstverständlich ist auch das Rotkehlchen ein schützenswertes Tier! Überhaupt ist ja der Begriff „schützenswert“ problematisch, da immer aus menschlicher Perspektive gedacht. Aber in einer Reihe mit Wanderfalke und Turteltaube wirkt es doch ein wenig wie der Klassensprecher der 8c auf der Vollversammlung der Vereinten Nationen – fand ich.

Meine Umfrage unter den Kolleginnen und Kollegen in der Klinik ergab folgendes Bild:

Hanna, grundsätzlich Rotkehlchen-Fan, fand, dass „sie schon genügend Fame haben“. Marcus setzte sich lieber für die Mehlschwalbe ein, „aufgrund ihrer unscheinbaren Schönheit, […] die auch auf Dauer Freude macht“, während Sophie den Wiedehopf bevorzugte. In der Kinderheilkunde also kein eindeutiges Votum für das Rotkehlchen. Und das trotz Kindchenschema!

Woher also die Beliebtheit? Vielleicht schlicht daher, dass Rotkehlchens zurückhaltende Schönheit so zugänglich ist? Ein orange leuchtender Federball auf weißer Schneedecke, der gläsern klare Gesang eines Rotkehlchens an einem sonnigen Wintertag, die Zutraulichkeit des kleinen Wesens beim Gartenumgraben – irgendetwas davon hat jeder schon erlebt. Kein Berg muss erklommen, keine Sturzseen ausgehalten werden, um diesen freundlichen Gast willkommen zu heißen. Dass so viele gleichzeitig auftauchen, ist übrigens dem Drängen des Zuggeschehens geschuldet. Normalerweise sind die so unschuldig dreinschauenden Racker winters wie sommers ziemlich territorial und vertreiben Artgenossen aus ihren Revieren (oder haben Sie schon einmal mehr als zwei Rotkehlchen am Vogelhaus beobachtet?).

Als ich eines der verflogenen Rotkehlchen hinausbrachte, bemerkte ich, dass sein Rücken gar nicht nur graubraun, sondern oliv überhaucht ist. Und das tiefschwarze Perlenauge – das hat eine warme, samtbraune Iris. Das Besondere liegt eben auch im Gewöhnlichen. Es geht wohl eher um die Fähigkeit, es dort sehen, als darum, an irgendeinem Ort etwas Seltenes aufspüren zu können.

Das Rotkehlchen ist also doch ein ziemlich guter Botschafter für die Anliegen der Vogelwelt. Und das bereits zum zweiten Mal, wie ich erstaunt feststelle. 1992 war es nämlich auch schon – durch Expertengremium gewählt – Vogel des Jahres.  Rotkehlchen – die Rückkehr!

(Den Vorgänger dieses todesniedlichen Blog-Schockers aus dem Jahr 2017 finden Sie übrigens hier https://blogs.nabu.de/trischen/invasion-der-rotkehlchen/).

Sand

Er ist überall. In den Schuhen, im Rucksack, im Brot, das ich mir zur Strandpatrouille mitgenommen habe und an jeder einzelnen Wimper. Er klebt auf der Brille, die ich kurz in die Hosentasche gesteckt habe, rieselt aus meinem Bestimmungsbuch und sitzt nach dem Brot nun auch zwischen den Zähnen. Wenn man keine Disziplin wahrt, mindestens einmal am Tag ausfegt und sich dazu zwingt, Schuhe und Hose vor dem Betreten der Hütte zu wechseln, begleitet er einen bis ins Bett. Am meisten nervt mich der Sand auf der Spüle; es knirscht, wenn man die Tasse abstellt – weiß der Teufel, wie er wieder dorthin gekommen ist, ich habe heute doch schon zweimal durchgewischt! Der Sand findet einen Weg.

Es stürmt nun seit fast zwei Wochen. West, West, West, wenn der Sturm mir einmal etwas Abwechslung gönnen will, schwenkt er auf Nordwest und manchmal auf Südwest. Als ich auf die Insel kam, war der Strand über und über von feinen, weißen Sanddünen bedeckt, die den Eindruck erweckten, man flöge mit einem Flugzeug über die Sahara, und in die man tückisch einsank, weil Tausende winziger Körnchen dem Fuß keinen Halt boten. Nur ihr kalt strahlendes Weiß, das Fehlen jeder Nuance von Rot verriet, dass der Äquator und seine Hitze fern sind.

Jetzt ist der Strand fest und graubraun und macht beim Auftreten ein dumpfes Geräusch. Sein Sand ist – nun ja, in meinen Schuhen, im Brot, auf den Wimpern…Trischen wirkt tatsächlich wie leergefegt. Ein paar Tage Sturm haben hinweggetragen, was wochenlang aussah, als würde es die Insel langsam wieder aufschütten nach den Sturmfluten des Winters. Theoretisch wandert Trischen nach Osten. Und wäre die Welt ein einfacher Ort, würde sie wohl in ein paar Hundert Jahren die Küste erreichen. Da aber Strömungen, Wetter und Gezeiten sich in kaum zu überschätzender Komplexität entwickeln und ein neuer Priel am anderen Ende des Wattenmeeres noch hier Auswirkungen zeitigen kann, ist das nicht so genau zu sagen. Peter Todt, der langjährige Vogelwart, hatte noch prognostiziert, dass es Trischen womöglich bereits 2020 nicht mehr geben könnte, wie meine Vorgängerin Anne in ihrem Jahresbericht 2020 (!) zitiert. Und Axel Rohwedder sagt, er halte für nahezu unvorhersehbar, wie genau sich die Form der Insel in den nächsten Jahren entwickelt. Der Sand kommt, der Sand geht. Gerade wirkt es, als sei die Insel ihre eigene Sanduhr, deren Zeit mit ihren Körnern verrinnt. Aber das kann in ein paar Monaten schon wieder ganz anders aussehen.

Der Vogelzug ist nahezu komplett zum Erliegen gekommen. Nur eine einsame Wacholderdrossel harrt seit Tagen an der Hütte aus und kann offensichtlich nicht weiter; zu viel Rückenwind ist auch nicht das Wahre, sie ist ja kein Albatros. Ich freue mich jeden Morgen, wenn sie mich mit ihrem schieferblauen Köpfchen aus dem Lockgebüsch neben der Hütte anschaut und zwei, drei Grußworte schackert. Tagsüber verberge ich mich mit dem Fernrohr im Windschutz einer Hüttenecke und hoffe, dass Westwind und Hochwasser mir einen der legendären Hochseevögel zutragen. Aber ich hoffe vergeblich. Kein Eissturmvogel. Keine Raubmöwe. Erst recht kein seltener Sturmtaucher. Die Finger sind eisig, trotz gefütterter Handschuhe.

Und dann, kurz vor dem Zusammenpacken, passiert es plötzlich doch: Weit draußen vor dem Weststrand scheint sich in Sekundenbruchteilen das Weiß eines Wellenkamms zu verdichten, aus dem Tal der Welle schießt auf langen, starren Flügeln ein herrlicher Basstölpel und kreuzt, kaum für eine halbe Minute sichtbar, im Sturm über der tosenden See, die im Wechselspiel des Lichts grün und grau flackert. Was für eine Dramatik! Ich jauchze vor Freude, es ist wie eine Erlösung. Auch, wenn ich jetzt wieder Sand zwischen den Zähnen habe.

Unten sehen Sie, wie der weiße Sandstrand hinweggefegt worden ist, nur der feste braune Grund ist geblieben. Darunter habe ich die Windgeschwindigkeit gemessen (max. 87 km/h); sie nahm sogar noch zu, aber dann konnte ich keine Fotos mehr machen.

Trotz Wind und Wetter – halten Sie die Ohren steif!

Im bleiernen Glanz der See

Ich spüre die leichten Schläge von Tropfen auf meinem Mantel. Regen setzt ein. Im allumfassenden Grau, das nachts über Meer und Insel gewachsen ist, ist mir das Herannahen der schweren Wolken kaum aufgefallen. Sie sind nur wenig dunkler als der Himmel. Kaum merklich heben sie sich ab, wenn eine Möwe die Grenze zwischen ihnen und dem Horizont kreuzt und im Kontrast für einen Augenblick eine Spur heller erscheint, bevor auch sie sich im diesigen Grau auflöst.

Nur selten hebe ich den Blick vom Okular des Fernrohrs, das unablässig diese Horizontlinie entlangfährt. Schemenhaft erscheinen Schiffe in der Hauptfahrlinie, die sie aus dem großen Trichter der Elbe in die Weite der Weltmeere entlässt. Ihre Form hat nur noch wenig mit dem zu tun, was man sich als Kind unter einem Schiff vorstellt. Verloren ragt die Brücke aus tausenden Containern hervor. Eigentlich sieht das komplette Schiff aus wie ein ins Gigantische verzerrter Container. Aber die Schiffe interessieren mich auch nicht. Ich suche nach Prachttauchern.

Wenn die Nordsee von den Winterstürmen kräftig durchgewalkt wird, fühlen sie sich so richtig wohl. Sterntaucher und Prachttaucher – diese klangvollen Namen führen zwei Arten kaum bekannter Zugvögel. Unbekannt deshalb, weil sie an einem Platz überwintern, der nichts mit der Gemütlichkeit eines Vogelhauses im Garten zu tun hat: Auf offener See. Die Tiere haben kaum eine Lobby, wenn es um die naturverträgliche Planung von Windparks geht, da ihr Lebensraum fast gar nicht als solcher wahrgenommen wird. Ich muss Sie bitten, im Internet ein Bild zu suchen, um die Tiere in all ihrer Pracht zu sehen. Sie tragen nämlich beide ein wunderschönes Federkleid, wenn sie in den nicht enden wollenden Tagen des nordischen Sommers zur Balz schreiten. Und wenn ein Haubentaucher (den kennen sie vielleicht vom Stadtparksee) sagen wir, eine charmante kleine Jolle ist, dann sind Stern- und Prachttaucher schnittige Segelyachten.

Aber im Winter sind sie grau. Ich starre also auf die graue See und suche nach grauen Vögeln, die eventuell (!) irgendwo in weiter Ferne tief im Wasser liegen und ständig abtauchen. Vielleicht einer von hundert ist ein Prachttaucher. Und jetzt auch noch dieser Regenschleier. Warum tue ich das eigentlich? Zumal ich bereits beide Arten in ihren Brutrevieren erlebt habe, direkt vor der Nase und im schönsten Ornat.

Ich kann keine einfache Antwort geben. Der Blick aufs Meer hat etwas Kontemplatives. Das ist ein bisschen wie ins Feuer starren. Das nur vermeintlich ewig gleiche Wellenwogen, das sich doch eigentlich in Tausend immer neuen Variationen abspielt, macht etwas mit dem Geist, das gleichermaßen beruhigt und belebt. Und wenn die angestrengte Suche nach den Schatten dort draußen, das Ausharren in Regen und Wind, die steif gefrorenen Finger und die brennenden Augen belohnt werden mit dem Federzipfel der Sichtung eines wilden Tieres – ! Man muss es wohl selbst erlebt haben.

Ein Prachttaucher wollte sich mir heute allerdings nicht zeigen. Aber das macht nichts. Kurz bevor ich umkehrte, brachen ein paar Lichtstrahlen durch. Die See zeigte für vielleicht eine halbe Minute einen feinen, matten Bleiglanz, und zwischen den fernen Trupps ziehender Trauerenten und den wieder einsetzenden Regentropfen hatte ich dann etwas ganz Anderes gefunden.

Unten blicken Sie mit mir durchs Fernrohr – stundenlang Bild Nr. 1. Und darunter (zur Belohnung…), ebenfalls durchs Fernrohr fotografiert, ein Sterntaucher, den ich vor ein paar Tagen bei besten Beobachtungsbedingungen in spiegelglatter See erleben durfte.