Mai 2022 Beiträge

Begegnung mit 11980 Nonnen

Es gibt heute einen Extra-Blogeintrag. Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, alle fünf oder sechs Tage etwas zu schreiben. Aber es gibt einfach noch mehr zu erzählen:

Es ging heute Morgen ziemlich genau um 08:00 Uhr los. Seit Sonnenaufgang hatte sich nicht viel ereignet, das einer Notiz wert gewesen wäre. Es war windstill, der Himmel hing mit einer dicken Schicht Wolken als graue Decke tief über der Insel, und aus der Wiese um die Hütte stieg noch immer die Kälte der Nacht. Ich fand, dass die Zeit für einen heißen Kaffee und ein kräftiges Stück Brot gekommen war.

Das fanden 11980 Nonnengänse allerdings nicht. Kaum stieg der Duft von seeehr schwarzem Kaffee aus der dampfbeschlagenen Blechtasse (das seeehr ist so eine leidige Krankenhausgewohnheit…), kaum hatte ich ein Messer in einen Laib Brot versenkt – da rannte ich schon wieder hinaus. Drei Stunden später war ich zurück.

Scharfes Flügelrauschen durchschnitt die Luft über der Hütte, dazu erklangen unverwechselbare Rufe: Das seltsame Geräusch, irgendwo angesiedelt zwischen verschnupfter Graugans und altersschwacher Sturmmöwe, kündigte endlose Reihen von Nonnengänsen an („Weißwangengans“ ist übrigens ein, wie ich finde, weniger schönes Synonym dieser Art. Der wissenschaftliche Name lautet Branta leucopsis.). Von Cuxhaven und Neuwerk kommend überflogen sie die Insel auf ihrem Weg in den hohen Norden, und ein glückseliger Vogelwart sah ihnen für die Dauer einiger Stunden dabei zu.

Das liest sich recht beschaulich. Es kommt allerdings ganz schön Betrieb auf, wenn ich von einem Ende der Hütte zum anderen sprinte, um weder die am Nord- noch die am Südende vorbeiziehenden Trupps zu verpassen, während ich versuche, mir die Zugrichtung des am Horizont anrückenden Bands 500 weiterer Gänse zu merken, von 200 im Sausewind über die Hütte schießenden Vögeln überrascht werde und plötzlich auch noch eine Brandseeschwalbe direkt vor der Nase habe, die offensichtlich ebenfalls dringend ihren Weg in mein Notizbuch finden möchte. Ganz kurz ergibt sich die Gelegenheit, einen Trupp nach Individuen durchzuzählen und somit das Schätzmaß zu adjustieren, das helfen muss, wenn die nächsten Großformationen anrücken. Außerdem gilt es, genau hinzuhören: Ertönt nicht doch irgendwo der hell kieksende Schrei einer seltenen Rothals- oder Zwerggans? Manchmal schließen sich nämlich andere Arten dem Schwung der Hauptdurchzügler an. Das Interessanteste, das ich vor vielen Jahren einmal beobachten konnte, war eine amerikanische Schneegans, die einen Trupp Kormorane anführte. Heute finde ich „nur“ einige Grau- und zwei Kanadagänse – aber einen gewissen Thrill bringt die Suche nach der ornithologischen Nadel im Federhaufen immer mit sich. Überraschungen sind jederzeit möglich.

Wenn Sie diese Zeilen lesen, sind die Gänse schon etliche hundert Kilometer weiter gezogen. Die schönen Tiere verbringen die Herbst- und Wintermonate zwar im verhältnismäßig milden Klima Mittel- und Westeuropas. Das namensgebende, kontrastreiche Gefieder zeugt aber davon, dass sie die Brustsaison nicht in blühender Maienwiese verbringen werden. Nonnengänse bauen ihr Nester in Kolonien an unzugänglichen, schroff-felsigen Meeresküsten im allerhöchsten Norden. Nicht gerade ein einladender Ort. Und doch: Wenn tausende Tiere mit so viel Schwung in eine Richtung ziehen – dann möchte man fast auch selbst ein kleines bisschen mitfliegen. Allerdings haben sich seit einigen Jahren auch ein paar der Tiere dauerhaft auf Trischen angesiedelt, so ganz verkehrt ist dieser Ort wohl doch nicht.

Den Kaffee habe ich übrigens zwischendurch getrunken. Er war eiskalt. Aber Eiscafé ist ein stimmiger Begleiter für arktische Gänse, oder?

Unten sehen Sie einen der vielen Trupps, die im Tiefflug über die Hütte sausten. Man hört dann wirklich das Federrauschen. Darunter mein von Minute zu Minute weiter sich füllendes Notizbuch, mit dem ich versuchte, der Zahlen Herr zu werden..

Vielleicht sehen Sie ja auch noch einige der Gänse auf ihrem Weg! Ich drücke die Daumen!

High Noon

Man kann ja ohne Weiteres viel Schönes über Sonnenauf- und -untergänge sagen, über den Zauber ganz früher, vom Tage und seinen Geschäften unbehelligter Morgenstunden, oder über einen lauschigen Sommerabend. Ich selbst habe mich immer für einen Nachtmenschen gehalten (ornithologisch gesprochen: Auf dieser berühmten Skala von Lerche bis Eule bin ich zu 100% der ausschließlich nachtaktive Rauhfußkauz). Aber gerade bin ich der Mittagsstunde verfallen.

Liegt es an der Kälte der letzten anderthalb Monate? Noch gestern habe ich bei der Vogelzählung mit Wehmut und schmerzenden Fingern an die Handschuhe gedacht, die ich angesichts eines trügerisch samtig blauen, wärmeverheißenden Himmels in der Hütte liegen lassen hatte. Als würden diese vergangenen Kältetage als Echo in irgendeinem Resonanzraum unbekannter Zellen nachhallen, verlangt mein Körper nun mit Macht danach, sich durchglühen zu lassen. Das ist für mich eine neue Erfahrung. Im städtischen Leben mit seinem Nicht-Wetter verwässern die Unbilden unsteter März- und Apriltage; Regen, Kälte und Hitze geschehen eher um einen („draußen“) als an einem. Ich denke mit neuem Respekt an die Menschen vergangener Tage und ferner Länder, denen das frühe Aufstehen in einer eiskalten Kammer und das Aufnehmen ihrer Arbeit – zumal, wenn man selbst derjenige ist, der den Kamin befeuern muss! – über Monate hinweg tägliche Routine war und ist. Das ist auch bei uns nicht lange her, noch meine Oma hat ihre Kinder- und Jugendtage auf einem Hof auf diese Weise zugebracht.

Aber nun die göttliche Mittagsstunde, die, ganz ohne Arbeit und Zutun meinerseits, den Körper durchwirkt und ihm ungefragt schenkt, wonach er sich verzehrt. Kein kraftraubendes Holzhacken. Keine vier Schichten Klamotten am unbeweglichen Leib. Händewaschen mit Wasser, das mehr als fünf Grad hat. Man kann sich leicht vorstellen, warum Sonne und Frühling seit Urzeiten Gegenstand menschlicher Verehrung sind. Als würde die Natur diesen Moment würdigen, ist dies auch die Stunde, in der eine seltsame Stille über die Insel kommt. Zwar kreischen über mir die Seeschwalben, aber sie fahren durch eine Luft, in der irgendetwas anderes schweigt, das sonst da ist. Manchmal sind auch sie plötzlich verschwunden. Das ist der Moment, in dem der Wiesenpieper sich auf einen Pfahl in der Salzwiese vor mir setzt und seine einfachen Geschichten erzählt. Wit-wit! Zit-zit-zit-zit-zit. Schipp.. Und ich freue mich, wenn mir dieser inzwischen so vertraute Vogel ein neues Wort aus seinem oberflächlich betrachtet etwas eintönig wirkenden Repertoire beibringt. Wenn man ihm eine Weile zuhört, ist da noch mehr.

Selbst wenn man sich sehr hütet, Tiere zu vermenschlichen: Es liegt doch nahe, dass der kleine Sänger mit der cremefarbenen, braungetupften Brust und der (nur manchmal singende) Vogelwart mit den blaugestreiften Schlappen auf einer ganz basalen Ebene etwas teilen: Das Gefühl, dass Wärme gut tut, und dass das Leben leichter ist, wenn nicht mehr Winter und Kälte herrschen, sondern für einige Monate lang das Licht das Szepter führt.

Unten finden Sie das Portrait meines freundlichen Compadres aus dem Text. Dass die Natur, die jedes Jahr eine Insel neu formt, auch an mir ihre Arbeit tut, sieht man am Bild darunter: Meine Hände wirken inzwischen, als kehrte ich gerade von einer Seereise bis mindestens Tahiti zurück (vom hier nicht abgebildeten U-Boot-Fahrer-Bart ganz zu schweigen..) – und die vornehme Blässe der Füße wird auch bald weichen!